Journal Title
Title of Journal: WIRTSCHAFTSINFORMATIK
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Abbravation: WIRTSCHAFTSINFORMATIK
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Publisher
SP Gabler Verlag
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Authors: Matthias Jarke Kalle Lyytinen
Publish Date: 2010/04/15
Volume: 52, Issue: 3, Pages: 115-116
Abstract
Beeindruckende Erfolge in den beiden letzten Jahrzehnten täuschen nicht darüber hinweg dass die Forschung im Requirements Engineering RE einer erneuten Abstimmung mit der Praxis bedarf Der Kontext für RE enthält heute Elemente die bei der Entwicklung der etablierten Methoden vor 20 bis 30 Jahren noch nicht präsent waren Erstens haben sich die wirtschaftlichen Grundlagen verändert Der Kostendruck verlangt genauere ROIAnalysen während sich gleichzeitig deren Zeithorizonte durch massive Wiederverwendung auf 18 bis 20 Monate verkürzt haben Zweitens gibt es kaum noch Neuentwicklungen auf der grünen Wiese der Analytiker ähnelt immer mehr dem doppelgesichtigen römischen Gott Janus der zum einen neue geschäftliche und technische Herausforderungen annimmt zum anderen aber auch das Erbe der existierenden Technik Organisation und soziopolitischen Situation einbeziehen muss Drittens erleben wir eine Skalierung von Einzelsystemen zu ganzen SoftwareÖkosystemen aus denen extrem komplexe nicht lineare Abhängigkeiten zwischen Systemkomponenten und ihrem natürlichen technischen und sozialen Umfeld entstehen – Green IT ist nur eines der aktuellen Schlagworte die diesen Trend charakterisieren Viertens führen kritische Faktoren wie Agilität und Markteintrittsgeschwindigkeit iterative kundengetriebene Systementwicklung oder sogar direkte Endbenutzerentwicklung zu neuen Abwägungen zwischen Effizienz Offenheit und Flexibilität in der Anforderungserfassung trotzdem erfordern verstärktes Outsourcing und Offshoring präziseres Management von Spezifikationen als Grundlage der Aufgabendelegation Fünftens schließlich interagiert RE mit anderen Designwissenschaften wie Industriedesign z B ubiquitäre Anwendungen Mediendesign elektronischer Handel und Unterhaltung Interaktionsdesign jenseits der DesktopMetapher und Organisationsdesign z B offene BusinessPlattformen Zusammenfassend begründet all dies die Forderung nach einer neuen systematisch aufgebauten und empirisch interdisziplinär hinterlegten Wissenschaft vom Design Requirements Engineering in Anlehnung an die Design Science Initiative wie sie von Al Hevner und Kollegen kürzlich in einem Interview dieser Zeitschrift propagiert wurdeIm Juni 2007 und im Oktober 2008 haben wir mit Unterstützung der NSF und der DFG zwei internationale Workshops in Cleveland Ohio und in Schloss Dagstuhl organisiert um diese Debatte weiter zu vertiefen Lyytinen et al 2009 u Jarke et al 2008 In Zusammenfassung der Diskussionen haben die Organisatoren vier Grundprinzipien identifiziert die uE künftige REProzesse charakterisieren und über den Erfolg künftiger REMethoden entscheiden Jarke et al 2010 1 die Verzahnung von Anforderungen und Kontexten 2 die KoEvolution von Designs mit ihren umgebenden Ökologien 3 die dominante Rolle von Architekturen als Lösungsrahmen und 4 neue Wege zur Kontrolle wachsender KomplexitätJedes dieser Prinzipien fordert neue Wege und ein Überdenken von Forschungsprioritäten Zwar wird die Bedeutung des RE wegen der umfassenden wechselseitigen Beeinflussung der Systeme mit ihrem Kontext weiter zunehmen Aber zusätzlich zu klassischen ROIBerechnungen unter hohem Zeitdruck müssen wir eben auch Gesichtspunkte wie die Passung mit zunehmend flexiblen Geschäftsprozessen ein besseres Verständnis der Fähigkeiten einer Organisation jenseits ihrer strukturierten Prozesse ein systematisches Erwartungsmanagement und rechtzeitiges Training beim Kunden trotz aller notwendigen Begeisterung für neue Produkte ebenso einbeziehen wie die juristische Analyse von Schutzrechtsrisiken und Vertragsstrafen Die Notwendigkeit des intellektuellen Austausches zwischen den Disziplinen wird mit der Diversität der im Entwurf softwareintensiver Systeme abzudeckenden Themen weiter zunehmenDieses Heft der WIRTSCHAFTSINFORMATIK setzt die Debatte mit Schwerpunkt auf RE als Grundlage der Beherrschbarkeit von komplexen Systemen fort Unter 19 eingereichten Papieren aus aller Welt wurden nach strikter Begutachtung und Überarbeitung vier Hauptartikel und ein StateoftheArtBericht ausgewählt Leite und Cappelli stellen ihr Konzept der „Softwaretransparenz“ vor nach dem Kunden und Benutzer die Nutzung und Evolution eines Systems über Ziel und Abhängigkeitsmodelle kontinuierlich aus RESicht verfolgen können und so die Verzahnung zwischen Anforderungen und Design aufrecht erhalten Im komplexen Entwicklungskontext des Offshoring gewinnt eine solche Perspektive weiter an Bedeutung Wiener und Stephan schlagen „reverse presentations“der entwickelten Systeme als Basis der Kommunikation in der globalen Entwicklung vor während Overhage Skroch und Turowski allgemeine Erfolgsfaktoren für REMethoden im Offshoring als Grundlage der Methodenwahl untersuchen Zickert und Beck schließen mit ihrer Arbeit eine wichtige Lücke zwischen der Informatik und der Wirtschaftsinformatik des RE indem sie erstmals systematisch und empirisch hinterlegt Zielmodelle des RE mit einer etablierten Kostenschätzungsmethode für die Softwareentwicklung verknüpfenNicht nur in der Medizin haben evidenzbasierte Ansätze in den letzten Jahren mehr und mehr Prominenz gewonnen In ihrem StateoftheArtÜberblick schlagen Goeken und Patas einen systematischen evidenzbasierten Wissensaufbau auch für das RE vor und klassifizieren die empirische RELiteratur aus dieser Perspektive neuDer Ansatz der Design Science kommt sicherlich der deutschen Auffassung von Wirtschaftsinformatik entgegen ist aber international keineswegs unumstritten Während unserer Workshops übte insbesondere TuringPreisträger Fred Brooks – bekannt als Projektleiter einiger der frühesten Großsysteme der Softwaretechnik seit den 1960erJahren wie auch als Verfasser von Bestsellern wie dem „Mythical Man Month“ – heftige Kritik an der seiner Meinung nach unberechtigten Vermengung von quasinaturwissenschaftlichen Ansätzen und Ingenieurspraxis Wir freuen uns sehr ihn als Interviewpartner für unser Schwerpunktthema gewonnen zu habenDie Papiere in diesem Schwerpunktheft geben ein gutes Bild aktuell führender interdisziplinärer REForschung an der Grenze zwischen Theorie und Praxis Wir gehen jedoch davon aus dass die Systemgrenzen in der Softwaretechnik weiter verschwimmen werden und damit die Notwendigkeit einer REPerspektive als Stimme des Kunden oder auch des Betroffenen noch weiter zunehmen wird Zum Beispiel ist zu beobachten dass die seit 1990 dominierende prozesszentrierte Sicht auf Unternehmen und Produktlinien nach und nach ergänzt oder gar abgelöst wird durch Netzorganisationen und InternetCommunitys die mittels gemeinsamer Plattformen mehr Partizipationschancen größere Variabilität und schnelle Innovation ermöglichen In solchen Netzen stammen wertvolle Beiträge gerade von den „Rändern“ des Netzes die Unterscheidung zwischen Endnutzer und Entwickler verschwimmt Transparenz Innovation Ästhetik und auch Ethik haben Vorrang vor rein funktionalen EntwürfenWir danken allen Autoren Gutachtern und dem Personal des WIBüros für ihre Beiträge ohne die dieses Schwerpunktthemenheft nicht möglich gewesen wäre und hoffen sehr dass die Leser Interesse an der spannenden Debatte über das künftige RE finden und sich daran aktiv beteiligen
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